Montag, 30. Oktober 2023

Das letzte Blatt

 Das letzte Blatt, es war so tapfer,
hielt den starken Windböen stand,
Es hielt sich fest am dünnen Zweige
und blickte weit hinaus ins Land.
 
 
Wind und Wetter hatte es ertragen,
Und sich des hellen Lichts erfreut.
Konnt' im Sonnenschein sich baden,
Hat sich demütig dem Sturm gebeugt.
 
Es wollte noch ein wenig bleiben,
Es hielt sich fest mit letzter Kraft.
Doch der Sturm rüttelte an den Zweigen,
Raubte ihm den letzten Saft.
 
Zwecklos Widerstand zu leisten,
Es musste loslassen, das sah es ein.
So segelte es leuchtend zu Boden,
sich dem Schicksal zu fügen, bereit.
 
Allein auf seiner unverhofften Reise,
Ohne Plan und ohne Ziel,
Fragte es sich ganz leise,
Ist das des Lebens ganzer Sinn ?
 
© Ursula Evelyn
 
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Freitag, 27. Oktober 2023

Die geheimnisvolle Blume

 Es war einmal eine geheimnisvolle, schöne Blume.
Sie lebte in einem Garten, einem zauberhaften Zaubergarten,
in dem sehr seltsame Geräusche zu hören waren.
Der Hauch einer leichten Brise zog durch diesen Garten.
Es hörte sich an, wie ein Flüstern.
 

So, als würden die Bäume sich gegenseitig etwas zuflüstern.
Was flüsterten sich die Bäume zu ?
"Da ist sie wieder," flüsterte einer der Bäume seinem Baumnachbarn zu.
"Pssst, stört sie nicht", erwiderte dieser, "sonst verscheucht ihr sie noch".
„Wir sollten froh sein, dass sie noch da ist. Sie fängt doch das Licht
und die Wärme ein und sie versorgt die Bienen mit Nektar“, meldete
sich ein anderer Baum zu Wort.
"Schaut nur, wie hell sie strahlt, wie schön sie leuchtet und
welch wundervolles Licht sie umgibt und!“

Diese geheimnisvolle Blume blühte schon seit vielen hundert Jahren
in diesem Garten. Sie versorgte alle, die hier lebten, mit ihrem Licht und ihrer
Wärme. Den Bienen schenkte sie Nektar. Die Schmetterlinge und Hummeln
liebten sie. Alle lebten in friedlichem Einklang miteinander in diesem
Zaubergarten.
Sie waren glücklich und zufrieden.
Doch das ist lange, lange her.
Im Laufe der Zeit wurde das Licht der geheimnisvollen Blume immer
schwächer. Es wurde so schwach, dass ihr an manchen Tagen die Kraft fehlte,
ihre Blüte zu öffnen. Ihr selbst fehlte nun das Sonnenlicht und die Wärme,
welches sie benötigte, um es an die anderen weiterzugeben.
Dafür regnete es immer öfter, so oft und so viel, dass sie manchmal bis zum
Blütenkelch im Wasser stand und der Stängel, der sie am Leben erhielt,
einknickte. An den meisten Tagen des Jahres beherrschten dunkle Wolken
den Himmel. Kaum ein Sonnenstrahl drang noch bis in den Garten durch.

Und dann kam der Tag, an dem sie so schwach wurde, dass sie keine Kraft
mehr hatte, sich aufzurichten. Es war ein frostiger, eiskalter Wintertag mit
Minusgraden, wie dieser Garten sie niemals zuvor erlebt hatte, als ein eisiger
Ostwind ihr den Rest gab.
Monatelang hatte sie diesen extremen Temperaturen und Stürmen getrotzt,
doch an diesem Tag verließen sie all ihre Kräfte. Nun fehlte auch ihr die Sonne
und die Wärme, die sie benötigte, um das Licht, die Wärme und den Nektar
an andere weiterzugeben.
Es war ein trauriger Tag, an dem sie ihren letzten Atemzug tat.
Denn von nun an blieb es dunkel in diesem Garten.
Es gab kein Sonnenlicht mehr, das sie hätte einfangen können, um den
Garten zu erhellen und es gab keine Wärme mehr, um all die anderen
Pflanzen, Blumen und Bäume, die Tiere, die Vögel und Insekten, die dort
lebten, zu versorgen.
Mit jedem Tag, der verging, wurde es stiller in diesem Garten, bis eines Tages
auch das allerletzte Geräusch verstummte. Zurück blieb ein lebloser, kahler,
dunkler Garten, der einst ein Paradies gewesen war.

© Ursula Evelyn

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Bild: Pixabay

Montag, 23. Oktober 2023

Träume nur Seele

 
 Träume nur, Seele ...
 
 
In den verdämmernden Herbsttag hinein
zauberst du lachenden Sonnenschein,
und aus der Blätter vergilbendem Flor
blühen dir duftige Veilchen empor,
träumende Seele.

Tönt denn der Glocken dumpfhallender Klang
dir wie ein schmetternder Lerchengesang?
Siehst du der Erde verweintes Gesicht,
fühlst du die eisigen Nebel denn nicht,
träumende Seele? -

Träume nur, träume ... der Frühling ist weit;
Rosen hat's nimmer im Winter geschneit -
dumpf nur und klagend, verweht vom Nordwest,
läuten die Glocken zum Totenfest.
Träume nur, Seele ... 

Müller, Clara (1861-1905)
 
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Foto: Pixabay
 

Samstag, 7. Oktober 2023

Zeit ist ein Geschenk

 
Warum will die Zeit nicht vergehen, wenn wir auf etwas warten müssen oder
etwas voller Ungeduld herbeisehnen ?



Sei es im Wartezimmer des Arztes darauf, dass wir endlich an der Reihe sind,
oder auf dem Bahnhof, dem Flughafen, der Haltestelle. Wir warten auf die
erlösende Nachricht, dass ein lieber Mensch eine Operation gut überstanden
hat oder gut mit dem Auto am Ziel angekommen ist.
Niemand wartet gerne und während wir warten, schauen wir ständig auf
die Uhr, doch Zeit scheint still zu stehen. Wie oft schauen wir auf die Uhr,
wenn wir einen Anruf erwarten, wenn wir Besuch erwarten. Viele warten
auf den Feierabend und werfen alle fünf Minuten einen Blick auf die Uhr.
Andere sehnen den Zeitpunkt einer Verabredung herbei, doch die Zeit will
einfach nicht vergehen.
Wir zählen die Minuten bis zu einem bestimmten, bevorstehenden Ereignis,
welches wir sehnsüchtig herbeisehnen. Wir sind entweder voll freudiger
Erwartung oder voller Ungeduld und schauen immer wieder auf den Zeiger der
Uhr, doch der scheint sich nicht von der Stelle zu bewegen.

Sind wir dagegen mit etwas beschäftigt, das uns Freude bereitet oder unsere
ganze Aufmerksamkeit erfordert, erleben wir gerade etwas besonders Schönes,
wünschen wir uns oft, dass die Zeit stehenbliebe.
Was tut die Zeit jetzt ?
Sie rast nur so dahin. Sie vergeht im wie im Flug !
Woran liegt das bloß ?

Niemand hat Zeit, weil man Zeit nicht besitzen kann.
Zeit ist ein Geschenk mit Verfallsdatum.
Deshalb sollten wir uns über dieses Geschenk freuen,
dankbar sein und es sinnvoll nutzen.

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Bild: Pixabay
Text: © Ursula Evelyn